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Vier Reden zum Abschied und ein Brief...

Jakob war seit 16 Jahren ein wichtiger Teil meines Lebens. Es begann als er noch ein Baby war. Ich habe ihn einmal gehalten, als er ein wenig krank war und er geweint hat. Ich lag in der Hängematte, man gab ihn mir in die Arme, und er ist auf mir liegend ganz ruhig eingeschlafen. Ich hielt ihn für eine oder vielleicht sogar zwei Stunden, und in dieser Zeit spürte ich auf einmal, dass ich mit diesem Kind eine besondere Verbindung habe. Auch wenn ich sein Bruder war und selbst damals noch ein Teenager, habe ich Jakob wie mein eigenes Kind empfunden.

 

In einem ihrer Tagebücher stellt Alexandra während ihrer Krebserkrankung die Frage, „Wenn ich sterbe, wer wird Jakob lieben so wie ich?“ Als ich diesen Satz von Alexandra nach ihrem Tod las, sprach er zu mir. Es war zugleich ein Fakt und ein Auftrag. Ich habe Jakob immer geliebt. Und Jakob hat mich geliebt.

 

Er war ein liebenswürdiges Kind, das haben glaube ich viele Menschen hier genauso empfunden. Wir haben sehr viel gemeinsam gelacht. Ich habe Jakob so gerne umarmt, und er mich auch. Für viele Jahre sind Jakob und ich gemeinsam auf Spaziergänge ins Freie gegangen. Wir haben viele gemeinsame Abenteuer in Wäldern und Wiesen und auf Spielplätzen erlebt.

 

Genau wie ich war Jakob in der Schule sehr unorganisiert und widerspenstig, aber wenn er an etwas arbeitete, lernte er gut und konnte gute Arbeit leisten. Als nach der Volksschule die Entscheidung kam, wollte ich, dass er so wie ich aufs Gymnasium geht. Ich wollte, dass er eine gute Ausbildung hat und auch lernt, disziplinierter zu sein.

 

Die Umstellung aufs Gymnasium war nicht leicht. Für Jakob gab es dann immer mehr Probleme beim Lernen und der Erledigung seiner Aufgaben. So wurde ich langsam, aber sicher zu Jakobs Nachhilfelehrer. Über viele Jahre übte und lernte ich mit Jakob, und unterstütze ihn dabei die Fertigkeiten und Fähigkeiten zu entwickeln, die er meiner Ansicht nach für die Schule und auch fürs Leben brauchen würde. Auch wenn Jakob gut arbeite, wenn ich dabei war, vergaß oder ignorierte er weiterhin viele seiner Hausübungen und Aufträge. 

 

Ich wollte, dass Jakob mit Freude lernt, oder zumindest seine Arbeit effizient erledigt damit er dann Zeit hat, zu machen was er gerne tut. Aber Jakob war sehr unorganisiert und die Anforderungen in der Schule wuchsen. Dazu kam, dass Jakob ein schwaches Immunsystem hatte. Immer wieder war er oft tage- und wochenlang krank und verpasste viel Unterricht. Es war oft sehr schwer zu trennen, ob er eine physische Krankheit hatte oder ob es ihm emotional nicht gut ging, oder ob er die Krankheit vorspielte. Die Gymnasialzeit wurde in vieler Hinsicht zu einem Kampf für Jakob, aber auch für uns und seine Lehrer. Einerseits war es ein Kampf mit den immer wiederkehrenden Krankheiten, anderseits ein Kampf Jakob beizubringen, dass er gewisse Dinge im Leben verlässlich erledigen muss.

 

Ich glaube Jakob erlebte mich nun zunehmend als jemand, der ihn zwingt und kontrolliert. Aber ich wollte nicht locker lassen, denn ich wusste, dass Jakob wie ich ein Mensch war, dem Freiheit und Unabhängigkeit von außergewöhnlicher Bedeutung sind. Ich wollte, dass Jakob eines Tages wie ich seine Matura macht und dann alle Möglichkeiten hat, sein Leben nach seinem Wunsch zu gestalten. 

 

Jakob entschied sich die Oberstufe weiterzumachen. Ich habe mich dann in den letzten Jahren langsam aber sicher ganz aus der Nachhilfelehrer-Rolle zurückgezogen. Jakob ist in vieler Hinsicht viel selbstständiger geworden. Ich hatte das Gefühl, wir haben es gemeinsam durch die Turbulenzen geschafft, er kann jetzt in dieser Hinsicht alleine segeln.

 

Aus einem kleinen Kind wurde ein Jugendlicher. Jakob war mürrisch und stilvoll. Sein Zimmer richtete Jakob sich ordentlich und gemütlich ein, ganz anders als ich. Er hatte echte Freundschaften und auch eine Freundin, was er für ein Jahr vor uns geheim hielt. Manchmal wenn er von einem „Spaziergang“ zurückkam, roch ich Zigarretenrauch. Ich habe ihn letzten August gefragt, wie die Ferien waren. Er hat gelächelt und gesagt: „Es war ein richtiger Teenager-Sommer.“ 

 

Jakob hatte außergewöhnlich geschickte Hände, besondere handwerkliche Fähigkeiten, eine Liebe zum Detail und in diesen Dingen ganz kreative Ideen. Er hat sich das immer bewahrt, und ich war neugierig, was er mit diesen Talenten weiterhin machen würde.

 

Auch wenn er immer wieder mit seinem Vater stritt, verstanden sich die beiden gut. Sie gingen zusammen auf Reisen und schauten gemeinsam im Laufe eines Jahres die gesamte „Games of Thrones“-Serie an. Sie waren sich viel ähnlicher als sie jeweils zugeben wollten. Er spielte mit seinen Brüdern. Jakob hatte lange und intime Gespräche mit seiner Schwester Maria. Er besuchte mich mit Maria in London, und wir machten die Stadt unsicher. Er war mit seiner Schulklasse in Edinburgh, und auch das hat ihm spürbar gefallen. Er besuchte und unternahm Dinge mit seinen Großeltern. Ich hatte im Großen und Ganzen das Gefühl, Jakob öffnet sich langsam, aber sicher und befindet sich auf dem Weg ins Erwachsenleben. Heute stehe ich an seinem Grab.

 

Jakob war ein vielseitiger Mensch. Er war lustig und liebevoll. Er war zornig und er empfand Hass. Er war sanft, ruhig, und einfühlsam. Er war kalt und abweisend. Er war traurig und er war glücklich. Er war einsam. Er war ein echter Teil unserer Familie. Er war ein Teil von uns.

 

Ich habe gewusst, dass er melancholisch ist und nicht sehr lebensfroh. Er war schwer zu begeistern und nach innen gekehrt. Er konnte sehr verzweifelt und zornig sein, und zugleich war er sehr gut darin, seine Gefühle zu verbergen. Ich wusste, dass es eine Möglichkeit ist, dass Jakob sein Leben beendet. Aber es war eine Option von vielen. In den letzten Jahren hat Jakob sich entfaltet und ist enorm gewachsen. Er hatte ein ganzes Leben vor sich, das er für sich passend einrichten und gestalten konnte, so wie er sein Zimmer für sich passend einrichtete und gestaltete. Er hätte sich anders entscheiden können.

 

Jakob, warum hast du dein Leben weggeworfen?

 

Jakob schreibt in seinem Abschiedsbrief: “Die Wahrheit ist, dass niemand von euch etwas dafürkann.“ Er beschreibt, dass er sein Leben täglich als schmerzhaft empfand, und dass er dies vor uns verborgen hat. Wir wissen nicht, wieso oder warum, aber irgendwo tief in ihm war Jakobs Seele gemartert. Und niemand von uns, die ihn geliebt haben, konnte das heilen.

 

Jakob, du schreibst in deinem Brief, du hattest immer das Gefühl, du bist falsch gepolt, du passt nicht in diese Welt. Aber du hast genau in mein Herz gepasst. Ich glaube, du hast das auch gefühlt, aber ich bin mir nicht sicher, ob du das immer verstanden hast.

 

Du schreibst in deinem Brief, dass du uns immer lieben wirst. Ich werde dich auch immer lieben. Aber ich hätte dich gerne in meinem Leben gehabt. Ich hätte dich gerne erwachsen werden sehen. Ich wollte, dass du dein Leben lebst, das Leben, dass du selbst gestalten kannst und das dich erfüllt. Ich wollte, dass du frei und unabhängig bist, wie du es dir immer gewünscht hast. 

 

Jakob, ich vermisse dich. Du warst und bist ein Teil von mir. Ich hoffe, dass sich dein tiefer Schmerz löst und du Frieden findest. Ich freue mich, dich eines Tages wiederzusehen. Ich werde mein Leben so leben, wie ich es mir für dich gewünscht habe. Ich werde dich immer lieben.

Johannes

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Mein lieber Jakob, 

 

vor einem halben Jahr hast du dich mir in einem Thema anvertraut, und du hast gesagt, dass ich der einzige sei, dem du das sagen könntest, weil ich der einzige wäre, der das versteht. Nach deiner zögerlichen Offenbarung hab ich dir zugestimmt- du hast schon recht, dafür sind alle anderen ja viel zu pragmatisch und manchmal auch zu grob und die anderen legen dir das am Ende noch als Schwäche aus. Ich habe versucht, dich dazu zu ermutigen, es öfter mit mir zu versuchen, wenn deine Meinung von anderen überhört wird. Das ist aber nicht wieder passiert. 

Mein erster Impuls als ich meinen Nachruf vorbereitet habe, war jetzt zu sagen, wie bedauerlich ich das finde, denn mit einem etwas günstigeren Lauf der Dinge hätte es auch einen anderen Ausgang geben können, aber es hat auch einen zweiten Impuls gegeben, und der war zu sagen, es geht in Ordnung, wie es war, weil Qualität geht immer vor Quantität. Die besten Momente sind nicht die, die man möglichst oft erlebt und das längste Leben ist noch lange nicht das beste Leben. 

Ich bin in Anbetracht der Umstände natürlicherweise geneigt, mich mit Gedanken zu beschäftigen, die dem 1. Impuls ähnlich sind; die würde es geben in so großer Menge, um ein Becken zu füllen, das mehr als tief genug ist, um darin zu ersaufen. Aus Unwillen zu ertrinken, drängt sich gleichzeitig wieder das Verhalten auf, alles Quälende in ein positives Licht zu ziehen. 

In deiner Todesnotiz hast du erwähnt, dass es für fast alles zwei Seiten gibt und das ist für uns Zurückgebliebene auf der Erde hinter dir auch der Fall. Ich versuche, beide Seiten miteinander zu vermischen, um deiner gerecht zu werden, denn weder soll man vor lauter Bedauern Schaden nehmen noch sich in eine künstliche Realität flüchten, die es natürlich gibt. 

Exemplarisch klingt das dann so: Ich bin froh, mit dir gelebt zu haben, obwohl es viel zu kurz gewesen ist. 

Matthias

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Lieber Jakob, 

selbst als ich sie lange hinter mir gelassen hatte, hast du mich immer wieder zurück in die Schule geschickt. In Staunen versetzte mich oft, was du tatst, sprachst und bautest. Du hast mehr gesehen, mehr gehört und weniger gesagt als die meisten von uns, aber wenn, dann war es geprägt von Scharfsinn und Einsicht, die wie ich meinte, deinem Alter voraus war. Unsere gemeinsamen Momente werde ich nicht vergessen. Am besten erinnere ich mich ans Bauen unserer überlebensgroßen Sandburg am Meer und den Spaß, den wir beide hatten. Doch jedes normale Wiedersehen am Wochenende war für mich jedes Mal erneut genauso groß.

 

Ich wünschte ich hätte gewusst, was in dir vorging und hätte liebend gern davon gehört und es geteilt. Ich hoffe du verzeihst mir, dass ich dich wohl immer schmerzlich missen werde. Ich werde jedoch mein Bestes geben, die Entscheidung, die du getroffen hast, zu akzeptieren.  

Selbst falls ich es ins zahnlose Altern schaffen sollte, bezweifle ich, dir in Sachen Weitsicht, Besonnenheit und Kreationsgeist das Wasser reichen zu können. Ich kann es kaum erwarten dich wiederzusehen und erneut einen Raum und eine Zeit mit dir zu teilen, in der du dich wohlfühlst und wir uns brüderlich messen können, wer mit den verrückteren Erzählungen aufwarten kann. Bis dahin habe ich kein Problem damit, dich den Rest des Weges hier, ein Stückchen weiter zu tragen, im Herzen, Gedanken und Treiben. 

An den Rest unter uns möchte ich hoffentlich in deinem Sinne diese Botschaft senden: Wenn die Lage noch so aussichtslos erscheint und niemand Notiz zu nehmen scheint: Speak up, sprich darüber. Denn womöglich bedeutest du jemandem die Welt, ohne davon zu wissen. 

Lukas

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Jakob war ein liebevoller und stiller Mensch. Mit seiner faszinierenden Auffassungsgabe überraschte er mich immer wieder - er konnte Menschen und ihre Beziehungen rasch erfassen und überaus treffend beschreiben. Egal ob Charaktere, Beziehungen und Handlungen von Filmen oder im echten Leben, es war spannend, seine Sichtweisen zu hören. Er redete zwar gerne über solche Sachen, aber er tat es fast nie von sich aus, man musste schon Arbeit leisten, aktiv Fragen stellen, dass er seine Ansichten kundtat. Eine gemeinsame Leidenschaft war unser Interesse für die Serie „Games of Thrones“ – während ich mir auch in der 50. Folge die Namen der Hauptfiguren nicht merkte, kannte er fast alle Namen, unzählige Details und hatte ein Bild für misslungene oder unlogische oder schlechte Szenen. Und eben für gelungene. Seine Antworten waren oft überraschend und oft so überzeugend, dass ich am Ende solcher Gespräche oft ein anderes Bild über eine Figur oder eine Szene. Und ein bisschen auch von Jakob selbst.

Wenn er sich einem Projekt widmete, dann tat er das mit einer großen Ausdauer und einer Hingabe fürs Detail. In einem Haus, in dem alle gut kochen können, stachen seine kulinarischen Fähigkeiten dennoch hervor. Er kochte selbst einfache Gerichte außergewöhnlich gut, seine Eierspeisen waren ebenso perfekt wie seine raffinierteren Gerichte. In den letzten eineinhalb Jahren waren wir wie eine Männer-WG, es war oft nicht so viel im Kühlschrank, er konnte auch mit fast nichts ein Gericht herbeizaubern. Ich fand seine Fähigkeit zu abstrahieren erstaunlich, er kombinierte Zutaten, von denen ich nie  gehört hatte, dass es jemand getan hatte, und ich kann mich nicht erinnern, dass er damit einmal daneben gelegen wäre. 

Andere legendäre Projekte war seine künstlerischen Arbeiten, seine Faltkarten, seine Objekte aus Wachs, Papier oder Holz waren durchdacht und perfekt ausgeführt. Als Fotograf besitze ich nicht nur meine zwei Kameras, sondern dank ihm zwei weitere, die er aus hundsordinärem Karton in einem Detailgrad angefertigt hat und die immer auf meinem Nachtkästchen stehen.

Und dann gab es noch seine handwerkliche Fähigkeit: Ich denke an das Bett, das er sich aus Brettern zusammenschraubte, an einem Wochenende, an dem ich nicht zuhause war. Er tat es ohne größere Vorerfahrung und natürlich fragte er nicht und sagte nichts und tat es einfach. Und wenn er nicht einen Kurzschluss ausgelöst hatte, hätte ich vermutlich erst durch Zufall entdeckt, dass er dieses Bett überhaupt gemacht hatte. Auch das war er, dass er viele Dinge einfach machte und auf keinen Applaus wartete.

Das größte Projekt, das wir zusammen gemacht haben, war das Glashaus. Wir montierten es nach meinen chaotischen Plänen. Ich - Heimwerker mit jahrzehntelanger Erfahrung - habe sicher zehn Bretter verschnitten, er - soweit ich mich erinnere - kein einziges. Oft standen wir und tüftelten, wie wir am besten weiter tun sollten, es war wirklich nicht einfach. Seine Fähigkeiten, meine Pläne zu studieren und Lösungen vorzuschlagen, wo sie nicht funktionierten, haben mich damals voll von den Socken gehauen. Damals war er grad vierzehn Jahre alt. Wo er es gelernt hat, weiß ich nicht, es fühlte sich so an, als habe er das immer schon gekonnt. So genial und motiviert er war bei herausfordernden Arbeiten, so schwer war er zu bewegen, wenn es langweilige Hilfsarbeiten waren. Dann kam dann gleich die Frage, darf ich oder muss ich? 

Seine Mama Alexandra kannte er nur kurz, er war drei Jahre alt, als sie starb. Weil er in der Zeit ihrer Krankheit viel bei ihr war, nannte sie ihn Doktor Scheby (sein Wort für Baby). Spielt Zeit eine Rolle? Liefert der frühe Tod seiner Mama eine Erklärung für deinen eigenen Schritt? Ich weiß es nicht.

Was ich weiß, ist, dass er da anders war als ich, dass er anders war als viele, denn meine erste eigene bewusste Erinnerung war erst viel später, es war mein vierter Geburtstag. Auch hier verstand er also zu verblüffen, denn er hatte einige Erinnerungen, echte Erinnerungen an seine Mama - Dinge, die er sich nicht aus Erzählungen anderer konstruiert haben konnte. Und er konnte einige Sätze von ihr zitieren. So hörte ich durch ihn Zitate von Alexandra zu einer Zeit wieder, die ich ohne ihn aus meinem aktiven Gedächtnis verloren hatte und die auch sonst niemand hätte zitieren können. 

Er war schon als Kind still und zart, er mochte kein lautes Wort, hatte Angst vor groben Menschen und schaute, wenn er eine Untat begangen hatte, seine häuslichen Pflichten vernachlässigt oder seine Hausaufgaben nicht gemacht hatte, einen mit  großen Kulleraugen an – seine Antwort und wohl auch seine Masche. Er hatte als Kind auch eine große Zärtlichkeit, war ein echtes Kuschelkind und er hatte diese ansteckende Fröhlichkeit, die auf so vielen Bildern im Clip währender der Andacht auftaucht, von der seine Mama in dem Brief spricht – als letztes von fünf Kindern war er lange unser Sonnenschein. 

Die Fröhlichkeit verwandelte sich allmählich in einen vornehmen Humor und melancholische Züge traten stärker in den Vordergrund. Er hatte einfühlsame Freunde und ich hätte gemeint er hatte einen guten Platz in der Familie. Dennoch blieb mir und eigentlich fast allen von uns verborgen, dass er selbst das Gefühl hatte, nicht in diese Welt zu passen. Er beschrieb dieses Gefühl in seinem Abschiedsbrief, schrieb, dass es sich anfühlt, als wäre er nicht richtig gepolt. 

Eigentlich ist es ein Gefühl, dass ich selbst gut kenne - ich denke, ich hätte es schon verstanden, wenn er darüber mit mir geredet hätte. Ich hätte das vor ein paar Tagen, bevor dieser Wirbelsturm über unser Leben gezogen ist, sogar gesagt, wir haben darüber geredet. Aber jeder Mensch hat viele Schichten, nach jeder tieferen Schicht, die man freilegt, gibt es immer noch eine weitere die sich (noch) nicht offenbart hat. Die Schicht, in die ich ihm zu folgen vermochte, war jedenfalls nicht tief genug, um das wahre Ausmaß dieses Weltentfremdet-Seins zu fühlen. Gesprochen hat er nicht wirklich darüber, jedenfalls nicht mit mir, weshalb es schwer ist, diesen Zustand zu vermessen – ich habe also weder eine Vorstellung, wie lange er sich hier auf unserem Planeten fremd gefühlt hat, wie schwer dieses Gefühl wog, wie groß seine Hoffnungslosigkeit war. Mein Eindruck heute ist, dass es schon lange irgendwie da war, und Raum gewonnen hat. Die Zeit von der Umwandlung vom Kind zum Erwachsenen ist eine Zeit der Unklarheiten, ich denke, dass er an manchen Stellen auch anders an den Kreuzungen abbiegen hätte können. So wie es war, hat sich die Lage aber wohl immer mehr zugespitzt, sodass er irgendwann sich so eingesponnen hat in dieser Hoffnungslosigkeit, dass es sich nicht mehr sehr lebendig gefühlt hat. Es ist natürlich ein verstörender Schritt, diese Endgültigkeit in Bezug auf uns ist faktisch unerträglich. Diese Entscheidung steht neben seiner Verzweiflung und seiner daraus resultierenden Unerträglichkeit der Situation. Es ist wie in dem Lied von Linkin Park, dass manchmal der Weg an einen Punkt kommt, wo man denkt, dass „Goodbye the only way is“. 

Es geschah nicht was geschah, weil es keine Liebe gegeben hat. Es hilft mir, es mit den Worten Pessoas zu denken, die als Zitat auf der Parte gestanden sind: Denn wer liebt, weiß niemals, was er liebt, noch warum er liebt oder was Lieben ist… Bei aller Traurigkeit dieses Schrittes war es dann die Liebe, die er an den Schluss seines Abschiedsbriefes gesetzt hat: Er endet mit folgenden Worten: „Vielleicht sehe ich Mama wieder, lebt wohl ihr alle, ich werde euch immer lieben.“ Für mich ist das nicht die Lösung aller Rätsel, nicht der Schlüssel, der den Schmerz vertreibt, aber es ist eine starke Botschaft: Die Liebe hat ihre eigene Methode, den Widersprüchen und dem Leid der Welt die Stirn zu bieten, sie ist es, die wie ein Licht leuchtet in dieser und jeder anderen Finsternis. Die Liebe ist viele Tränen wert.

*  *  *

Jakob, ich bin so froh um deine Liebe. Froh, dass du es noch geschrieben hast, zu mir, zu deinen Geschwistern, dass du deine Mama einbezogen hast in den vielleicht letzten Satz, den du auf dieser Erde geschrieben hast. Wir, deine Eltern waren so glücklich, glücklich, dass du ein Stück Leben mit uns geteilt hast. Wir waren glücklich mit jedem unserer Kinder, aber du warst auch deswegen besonders, weil du ein geplantes Kind warst. Wir wollten dich, wir wollten noch einmal das Glück einer Elternschaft. Ich war glücklich von dem Moment an, an dem deine Mama gesagt hat, dass sie dich erwartet. Es war dann so schwer für deine Mama, dich damals loslassen zu müssen. Nun ist es ist schwer für mich, es zu tun, schwer für uns alle dich jetzt loszulassen. Das wünsche ich dir auf deinem weiteren Weg, sie wieder zu treffen, sie und Anna, unser Sternenkind, und dass du dort, wo du jetzt bist, eine echte Heimat finden kannst. In einem Lied der Band „Wir sind Helden heißt es: Ich werde mein Leben lang üben, dich so zu lieben wie ich dich lieben werde wenn du gehst. Ich liebe dich, werde dich immer lieben. 

 

Papa

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